Medellin - Früher gefährlich heute wunderschön

Am Freitagabend nach dem letzten Tag in der Sprachschule ging es mit dem Nachtbus weiter nach Medellín - der berühmt, berüchtigt, beliebtesten Stadt Kolumbiens. 




Ich Idiot habe offenbar in geistiger Umnachtung mein Ticket gebucht und habe das falsche Datum ausgewählt. Das Ticket war für den Freitag eine Woche später. Ich bin trotzdem zur Busstation und habe mit meinem frisch erworbenen Spanisch versucht, das Ticket auf heute zu verschieben ohne extra zahlen zu müssen. Ich habe ganz knapp - so weit wie mein Spanisch gereicht hat - geschildert was das Problem ist. Der Typ am Schalter hat keine Miene verzogen, meinen Pass entgegengenommen, eine Ewigkeit in seinem Computer rum getippt und mir schließlich ein Ticket für in einer Stunde in die Hand gedrückt. Sehr unkompliziert die Kolumbianer. 😃


Die Fahrt war sehr entspannt. Ich konnte sehr gut schlafen, hatte zwei Sitze für mich und habe mir in den frühen Morgenstunden wie in jedem Südamerikanischen Bus den Arsch abgefroren.🥶



Die sauberste und beste Hostelküche, die ich je hatte…



In Medellín angekommen bin ich mit der Metro (die hier allerdings über der Stadt und nicht unter der Stadt fährt) zum Stadtviertel des Hostels gefahren. Von der Metro in Medellín haben wir schon in Bogota gehört. Sie soll eine der besten Südamerikas (oder sogar der Welt?) sein und ich kann es nur bestätigen. Das ganze Metro Areal war sauberer als manches WG-Zimmer und in der Metro hat man fast nicht gemerkt, dass man fährt, so leise war es! Sehr beeindruckend. 


Ich war recht früh im Hostel und konnte noch nicht einchecken. So bin ich in die nächstbeste Shopping Mall gelaufen, um mir einerseits die Beine zu vertreten und andererseits eine mitteldicke Jacke zu kaufen. Die Mall war, genau wie die U-Bahn, krasser als in Zürich! Alles sauber, Läden wie bei uns und eine Achterbahn für die Kinder, die durch die Mall führte! 🫣

Ich habe keine Jacke, dafür aber ein T-Shirt gekauft (das ist doch immer so oder?) und mich dann in ein hübsches Kaffee gesetzt und gelesen. 





Die Shopping Mall





Ich hatte irgendwie gar nicht wirklich soziale Energie bzw Lust, auf neue Leute zu zu gehen, und wollte erstmal mein eigenes Ding machen. Da kam mir dieser Me-time-Tag gerade recht. Ich habe mich in mein Buch vertieft, bisschen was eingekauft und bin zurück zum Hostel gelaufen, wo ich weiter gelesen habe. 

Nach einem kleinen Abendspaziergang in “meinem” Viertel Poblado habe ich Spaghetti gekocht und habe mich schon ins Bett verkrümelt. 


Wenig später kamen zwei Mädels mit Gepäck zur Tür rein und wir sind ins Gespräch gekommen. Léan und Marie Pierre (kurz MP) sind zwei Kanadierinnen aus dem französischen Teil Quebec. Wir haben direkt frisch fröhlich drauf los geplaudert und haben noch einen weiteren Mitbewohner - einen Israeli - kennengelernt. 

Wenn die Leute passen, kommt auch ganz schnell die soziale Energie zurück. 😉


Erster Tag in Medellín 

Das Hostel in dem ich bin - sehr sehr hübsch by the way - bietet eine “Transformation City Tour” an, die an den Spuren Pablo Escobars entlang durch die verschieden entwickelten Stadtteile Medellíns führt. Die Kanadierinnen und ich haben uns eingeschrieben und los ging’s. Wir sind mit einem Van von Stadtteil gefahren und zwischendurch immer mal ausgestiegen. 

Wir hatten sogar die Ehre dass der Hostelinhaber - Frederico - höchstpersönlich die Tour gemacht hat. Obwohl Sonntag war. 


Die Fritos 

Die Löcher stehen für die Umgekommenen. In manchen stecken Blumen..

Angefangen haben wir bei einem Park, der früher mit Gebäuden von Pablo Escobar zugebaut war. Pablo Escobar war der brutalste, mächtigste und einflussreichste Dorgenbaron und Naco-Terrorist der Welt, mit Sicherheit aber Kolumbiens. Er hat die Geschichte des Landes und vor allem Medellins geprägt wie kein Anderer. Im Park war ein Denkmal aufgestellt, auf dem auf der einen Seite im chronologischen Zeitverlauf seit 1983 alle Bomben aufgelistet waren, die Escobar auf Banken, Schulen, Krankenhäuser, Polizeibüros, Universitäten, Bars und vieles mehr abwerfen lies. Es hörte gar nicht mehr auf! Auf der anderen Seite des Denkmals war für jeden nachgewiesenen Toten zu Zeiten Escobars ein Loch eingebohrt. Es waren weit mehr als 46000!!! Und die Dunkelziffer muss riesig sein! Escobar pflegte seine Opfer teilweise in Säurefässern verschwinden zu lassen, sodass man sie nie finden wird. 

Schon nach diesem ersten Stopp waren wir alle sehr betroffen und verstummt. In dieser Zeit in Medellín gelebt zu haben muss furchtbar gewesen sein. 

Unser Guide und Hostelbesitzer Frederico war 11 Jahre alt als die Bombenangriffe starteten und musste sich regelmäßig im Klo verstecken, wenn die Sirenen heulten. Er hat viele Angehörige und Freunde zu dieser Zeit verloren. Als er noch sehr klein war, ungefähr Kindergartenalter hat Pablo Escobar Gebäude von seiner Mutter (Immobilienmaklerin oder so) gekauft, wodurch er selbst mit Escobars Sohn in Kontakt kam und regelmäßig mit ihm gespielt hat!! Mit jemandem zu reden, der so hautnah dran war ist schon sehr besonders….

Wie seine Lebensgeschichte - die eindrücklichste die ich in meinem Leben je gehört habe - weiterging, erzähle ich nachher noch. 


Weiter ging unsere Tour im Westen der Stadt. Wir sind durch eine sehr sehr arme Gegend gefahren, wo am Straßen Rand mit Drogen gedealt wurde, Obdachlose bettelten und mittendrin gleichzeitig Kinder spielten. Dieses Viertel ist innerhalb von Sekunden aufgetaucht und auch wieder verschwunden. 

Frederico hat uns erklärt, dass alle Stadtteile in Medellín von 1-6 eingestuft werden. 1 sind die ganz Armen und Obdachlosen und 6 die Reiche Oberschicht. 

Innerhalb von 10min Autofahrt kann man von 6 zu 1 zu 3 zu 5 fahren und es ist einfach der Wahnsinn (im wahrsten Sinne des Wortes!) wie krass die Kontraste hier sind. Es ist absurd und traurig!





Der graue Bereich ist der Ort mit den Massengräbern…




Es ist so steil dass es mitten in der Stadt im Freien Rolltreppen gibt 

Mitten in der Comuna 13


Das ist der Sportplatz von dem die Rede war

Mit den zwei kanadischen Mädels und Ricky - einem der Guides

Unsere Stadttour Gruppe


Wir haben an einem lokalen Fastfood Shop gestoppt und drei kolumbianische Fritos (= frittierte Kleinigkeiten) gegessen. Bisher habe ich mich von dem ganzen frittierten Kram immer fern gehalten aber diesmal war es echt lecker! 


Danach ging es in den bekanntesten und bis vor 20 Jahren mit Abstand gefährlichsten Teil Medellin - Comuna 13. Medellín hatte ziemlich lange den Ruf als gefährlichste Stadt der Welt und das hauptsächlich wegen diesem Viertel! 

Je weiter man vom flachen Tal hinauf an die Berghänge geht, desto ärmer wird die Stadt. Und die Comuna 13 ist genau an einem solchen Hang und demnach vor allem eins - steil! 

Heute sehr bunt, laut und fröhlich, war es hier früher dunkel, dreckig und gefährlich. Im Dunkeln raus gehen konnte tödlich enden. An einem Basketballplatz an dem wir vorbei gekommen sind, wurde früher Geisel , dessen Familien das Lösegeld nicht zahlen konnten, von Kindern (!!!!) hingerichtet! Wenn die Kinder sich nicht trauten oder weigerten, konnten sie sich gleich selber hinknien. Die ganzen Leichen wurden auf einem Berg nebenan vergraben, sodass sich in Sichtweite das größte Massengrab der Welt befindet. Erkennbar an einem riesigen braunen Fleck in der sonst grünen Landschaft. Man kann es kaum glauben. 


Heute ist die Comuna 13 ein Hippies Viertel mit unzähligen Touristen. Leider nicht alle so sensitiv auf die Geschichte wie man sein sollte. Überall werden Pablo Escobar Shirts und Souvenirs verkauft. Wer sowas kauft, dürfte gar nicht herkommen…







Wir haben einen speziellen Drink mit Kaffee und Limonade ausprobiert und sind dann zurück gefahren. Ich war ziemlich fertig. Sowohl von der Lautstärke, der Musik, den ganzen Menschen. Als auch von den Informationen die wir bekommen haben. Einmal mehr komme ich mir in Deutschland und in Zürich vor wie in einem kleinen behüteten Paradies. 


Auf der Rückfahrt hat uns Frederico - der Hostelbesitzer - seine Geschichte erzählt… Er und seine Familie waren nicht schlecht gestellt bevor alles los ging. Seine Eltern waren Anwälte und sie haben in einem schönen Viertel gewohnt. Nachdem Pablo Escobar gestorben ist (1993) ging “das große Kidnappen” los. Die Leute die ihr Geld früher durch Escobar verdient haben, haben angefangen Leute von der Straßen wegzuschnappen und deren Angehörige mit Lösegeldforderungen zu erpressen. Konnten sie zahlen, war die Wahrscheinlichkeit dass man nochmal gekidnappt wird nur noch höher weil man sich quasi als zahlungsfähig “geoutet” hat. Frederico wurde als 18-jähriger durch genau solche Leute entführt und drei Wochen festgehalten. Seine Familie hat gezahlt und er kam frei. Aber war nun umso mehr in Gefahr erneut entführt zu werden. Er hat seine Eltern um ein Flugticket nach London und 100$ um dort neu anzufangen und in Sicherheit zu sein. Als fast noch Teenager ist er also alleine ans andere Ende der Welt gezogen und hat schnell gemerkt, dass man mit 100$ in England nicht weit kommt. Durch ein paar unkluge Entscheidungen, was er nicht besser wissen konnte und fehlende Sprachkenntnisse (er hat kein Wort Englisch gesprochen) hat er sehr schnell kein Geld mehr gehabt und war einen Monat auf den Straßen Londons obdachlos - im Februar!!!! Er war total am Ende und kurz davor seine Familie anzurufen und zurück zu fliegen, da hat ein Englisch-Niederländisches Pärchen sich seiner angenommen. Sie haben ihn mit zu sich genommen, ihm essen gegeben, eine Wohnung und einen Job besorgt. Unglaublich wie diese zwei Menschen sein weiteres Leben verändert haben. Er hat angefangen tausende Klos in London zu putzen, war dann bei McDonalds angestellt und ist schließlich in die Hotelbranche gewechselt. Nebenbei hat er ein Studium in Wirtschaft und Management angefangen und hat sich schließlich so weit hoch gearbeitet dass er nach 10 Jahren der Manager eines Hotels in einer der besten Gegenden Londons war!! (Ich bekomme schon wieder Gänsehaut wenn ich es schreibe) Ungefähr zur selben Zeit hat sich die Lage in Kolumbien wieder beruhigt und war stabil genug um zurück zu kommen. Und Frederico wollte zurückkommen. Ein Freund von ihm hatte ein Grundstück in einer der top Gegenden Medellins und wusste nicht wohin damit. Frederico hat ein Hostel draus gemacht und in genau diesem Hostel bin ich jetzt! 

Er hat angefangen Touren zu machen und mit jedem Pfennig den er entbehren konnte eine Organisation zu gründen, die Kindern und den ärmsten Gegenden Kolumbiens eine schulische Ausbildung ermöglicht. Er ist von Armenviertel zu Armenviertel gezogen und hat insgesamt schon über 40 Schulen gegründet. Die Kinder bekommen in der Schule auch 2 Mahlzeiten, sodass der Anreiz steigt. Alle Einnahmen der Touren, die er mit dem Hostel macht - die wir auch gemacht haben - gehen an diese Organisation. Wahnsinn! Ich war komplett sprachlos als ich das gehört habe…


Einige Jahre später, als das Hostel schon gut lief, kam Ricky in sein Leben. Er hatte gar nichts, keinen Penny in der Tasche, und hat schon fast die Hoffnung aufgegeben. Er hat bei jedem Hostel nach Jobs gefragt und das Hostel von Frederico war seine letzte Rettung. Er hat, genau wie Frederico in London, angefangen die Klos im Hostel zu putzen und ist dann allmählich zum Tourguide und mittlerweile auch DJ aufgestiegen. Er musste aus seiner Heimatstadt im Süden Kolumbiens fliehen weil dort die Guerillas um sich griffen. Wenn man sich weigert, ihnen bei zu treten, ist ma selber dran. Also hat er die Stadt verlassen und ist nach Medellin gezogen. 

Er hat sich Englisch, Niederländisch und ein bisschen Deutsch beigebracht und sein Traum ist es, irgendwann mal in Europa zu leben. Er ist super sympathisch und hat den zweiten Teil der Stadttour geleitet. 





Ich war komplett fertig nach diesem Tag. Einerseits kann ich mir nicht mal im Ansatz vorstellen, was diese beiden Männer alles erleben mussten. Andererseits war ich in dem Moment als sie es erzählt haben, so tief drin dass ich es selbst fast spüren konnte, wie schlimm es war… 


Die ganze Stadt hat es in sich. Aber ich muss sagen: Die ganze Geschichte und das Leid was die Leute hier erlebt haben beiseite genommen, gefällt mir die Stadt als solche unglaublich gut. Sie ist so vielfältig, wechselt von Straße zu Straße und ist vor allem Mega grün! Überall sind kleine Pärke und Grünflächen. Die Lage mitten in den Bergen ist wie eine Umarmung der Natur und durch die Bebauung der Hänge hat man immer wieder tolle Aussichten über die ganze Stadt! Me gusta much! 😇🌆


Zweiter Tag in Medellin 

Am nächsten Tag sind die zwei Kanadierinnen und ich nochmal zur Stadttour aufgebrochen. Dieses Mal auf eigene Faust. Wir haben die Metro Richtung Norden genommen und sind in eine der vielen Gondeln gestiegen, die in die Stadtteile auf den Hängen führen. Das war nochmal eine ganz andere und neue Perspektive! 


Mit MP (Lins) und Léan (rechts) 🥰

Das große Ding oben sind die Metro-Gleise





Wieder unten angekommen, ging es in die eigentliche Innenstadt von Medellin. Die beiden Mädels waren in einem Secondhand Laden shoppen und ich bin per Zufall über den Uni Campus gestolpert und habe ihn mir gleich mal angeschaut. Es war der Wahnsinn! Der Campus war so schön wie man sich ihn nur vorstellen kann. Zwischen allen Vorlesungsgebäuden waren Pärke, die Cafeteria war mitten im Grünen, Hängematten wurden zwischen die Bäume zum erholen gespannt und überall gab es kleine Cafés, Bücherläden und Bänke. Ein Sportareal durfte natürlich auch nicht fehlen. Im etwas modernen Teil des Campus waren auf einmal ganz viele Menschen in Abschluss-Robe (so wie man das aus Amerika kennt) und hatten offenbar gerade Abschlussfeier. 👩‍🎓 

Ich hätte mich am liebsten direkt immatrikuliert. Es gab sogar einen Haufen Mikrowellen, wo sich die Uni Zürich mal eine Scheibe abschneiden kann mit ihren zwei mickrigen Mikrowellen im Uniturm! 😉


Ich habe mich kurz in den Park gesetzt, die Atmosphäre aufgesaugt und habe mich dann wieder mit den kanadischen Mädels getroffen. Wir sind nochmal ein paar Metrostationen weiter gefahren und waren wieder in einer ganz anderen Welt. Die Häuser waren viel höher, überall hat es von Fake-Schuhläddn gewimmelt, die Straßen waren voll von kleinen Ständen und tausenden von Menschen. Immer mal wieder ist ein recht pompöses Gebäude aus dem Grossstadtgewusel aufgetaucht und hat Eindruck gemacht. 


 Am Ende des Tages hatte ich das Gefühl, sie wären in 4 verschiedenen Städten gewesen, obwohl wir Medellin nicht mal verlassen haben. So eine krasse Stadt! 




Die Uni


Selbst der Hund wurde zurecht gemacht 


Die Cafeteria

Ich finde es wichtig die Geschichte von Kolumbien und Medellin zu kennen aber die Stadt und das Land deshalb nicht zu verurteilen. Kolumbien ist ein tolles Land mit noch tolleren Menschen und ich kann jedem von ganzen Herzen empfehlen hier her zu kommen! Insbesondere auch nach Medellin! 😇

Am Abend haben wir alle zusammen unsere Rucksäcke gepackt und auf dem Boden vom Hostelzimmer geplaudert. Am Abend sind noch zwei weitere kanadische (auch französisch-sprachige) Mädels eingecheckt, die auch super sympathisch waren. Ich habe meine Zeit in Medellin sehr genossen, freue mich nun aber auf eine Auszeit auf einer Hacienda mitten in einer Kaffeeplantage im Süden von Medellin. 🌿⛰️😇 

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