Wenn die Erde plötzlich bebt…

Wir saßen also alle in sehr gemütlichem Kreise auf der Hostel-Dachterrasse, haben uns das Essen schmecken lassen und gequatscht. Es hat sich später noch Jette aus Deutschland zu uns gesellt, die mit dem Zug aus Deutschland bis nach Marrakesh gereist ist. Ebenfalls sehr inspirierend. 

Trotz der schönen Stimmung war ich müde und habe mich gegen 23:00 Uhr ins Bett verkrümelt. Da alle anderen noch oben waren, war ich alleine im Mehrbett-Zimmer. Ich habe im Bett noch an meinem Blog geschrieben, als es auf einmal ultra laut wurde und mein Bett angefangen hat, zu wackeln. Mein erster Impuls war “Scheisse die Klimaanlage explodiert.” Wir hatten nämlich einen riesigen Klotz von Klimaanlage im Zimmer stehen. 

Als es dann immer immer mehr vibriert, gewackelt und geschüttelt hat und plötzlich Staub und kleine Bröckchen von der Decke auf mich herab gerieselt sind, war mir schlagartig klar, dass hier gerade was ganz und gar nicht stimmt. Ich habe mein Handy fallen lassen und bin in Schlafanzug, ohne irgendwas bei mir und barfuß runter und raus vor die Tür gerannt. Drei andere deutsche Mädels, die ich vorher nur flüchtig kennengelernt habe, sind ebenfalls die Treppe runter gesprintet und raus. Vor der Tür war allerdings eine riesige Staubwolke, so dass wir - trotz des geringen 2m Abstands zur Hosteltür- innerhalb von Sekunden nichts mehr gesehen haben und vor allem fast nicht mehr atmen konnten. Wir haben wild nach den Händen der anderen gegriffen und uns zurück ins Hostel getastet. Wir sahen aus, als hätte man einen Sack Mehl über uns ausgekippt. Der Staub saß uns in der Lunge und wir waren alle total im Schock. 

Erst da habe ich so richtig realisiert, dass es nicht nur das Hostel war was gebebt hat, sondern alles. Mein einziger Impuls war “die Decke kommt gleich runter und das Hostel bricht zusammen” aber ich habe nicht mal im Ansatz an ein Erdbeben gedacht. Die Staubwolke vor der Tür kam von dem Gebäude direkt neben uns, was komplett zusammen gebrochen ist und dessen Trümmer den Weg vom Hostel weg verschüttet hat.

Über dem kleinen Torbogen weiter hinten steht “Earth Hostel” und unter dem Bogen ist der Eingang zum Hostel.

Wir sind alle auf die Dachterrasse gerannt, damit zumindest schon mal nichts auf uns drauf fallen kann, falls es nochmal bebt und oben angekommen, waren alle total aufgewühlt und panisch. Alle Hostel Bewohner und die Angestellten - 3 wunderbar hilfsbereite und selbstlose Männer by the way - waren auf der Dachterrasse und jedem Stand der Schock ins Gesicht geschrieben. 

Einige sind auf einmal abgesprintet und haben sich mit minimalen Hab und Gut den Weg zur nächst größeren freien Fläche - einem Platz circa 2min von uns entfernt - gebahnt. Der Rest von uns, und auch ich, wollten lieber im Hostel auf dem Dach bleiben, aus Angst, bei einem erneuten Beben in den Gassen verschüttet zu werden. Wir waren also auf der Dachterasse unseres Hostels gefangen. Durch die Gassen konnten wir nicht, zumal eine Seite schon verschüttet war, und einen anderen Weg raus aus der Medina gab es nicht. Den Weg über die Dächer haben wir kurz in Betracht gezogen aber dann schnell als noch gefährlicher verworfen. Uns war natürlich klar, dass die Dachterasse keineswegs sicher ist. 

Während wir oben saßen und beratschlagt haben, haben wir auf einmal gesehen, wie die Lampenschirme anfangen zu vibrieren. Es war wie im Film. Wir haben uns alle festgehalten und hingesetzt aber es ist zum Glück bei dieser kleinen Vibration geblieben. Das erste Nachbeben.

Der Hostelbesitzer, Mohammed, hat uns dann gestanden, dass ihm die Risse in den Wänden des Hostels durchaus Sorgen machen und er - wäre er alleine und nur für sich selbst verantwortlich - auch auf eine freie Fläche laufen würde. Außerdem seien die Häuser in der Medina alle miteinander verbunden und das Einstürzen eines Hauses könnte einen Dominoeffekt auslösen. Das hat uns dann doch etwas beunruhigt und wir haben uns überreden lassen, über die Trümmer zu klettern und auf den nächsten Platz zu laufen. Wir haben nur das Nötigste mitgenommen. 



Auf dem Platz haben wir dann die anderen, die direkt am Anfang losgerannt sind, wieder getroffen und das ganze Hostel war dort wieder vereint. Wir waren um die 15-18 Leute schätze ich. 
Auf dem Platz waren wir nicht die einzigen. Unzählige Touristen und Einheimische haben sich schon mit Decken und Pappen als Unterlage auf dem Boden eingerichtet. Wir haben es ihnen gleich getan und einfach gewartet. Natürlich hat uns alle die Sorge um Nachbeben, wie das vor kurzem auf der Dachterasse, beschäftigt. Es war mittlerweile 1:30 Uhr nachts. 

Es wurde später und die Nacht immer kühler. Wir hatten ja alle nichts weiter an außer dünne Tops und bald haben wir alle gefroren. Ich habe mir mein Handtuch ungehangen aber auch das war nur ein minimaler Wärmespender.
Die Frauen neben uns haben uns Platz auf ihren Decken gemacht und einer besonders leicht Bekleideten von uns sogar einen Umhang von sich selbst angeboten. So eine Herzlichkeit! 

Wir haben Stunde um Stunde so gesessen und gelegen. Haben geredet, “Hätte, Wäre, Könnte” Szenarien erfunden und gleichzeitig betont wie viel Glück wir hatten. Das Adrenalin floss noch in vollen Schüben durch unser Blut und niemand konnte schlafen. 
Gegen 3:30 morgens ist dann auch noch kurz der Strom ausgefallen und wir lagen auf einmal alle unter einem doch eigentlich recht schönen Sternenhimmel. 

In diesem Moment der Dunkelheit, habe ich mich trotz des tragischen Ereignisses und der unbeschreiblichen Lage unglaublich geborgen zwischen all diesen fremden aber doch nicht fremden Menschen gefühlt. Alle waren so hilfsbereit, jeder hat sich um die anderen gesorgt, wenn sich die Blicke getroffen haben, wurde einander mutvoll zugelächelt und ich war so froh, alle bei mir zu haben.


Der Strom ging dann plötzlich wieder. Die 5, die am Anfang unbedingt weg vom Hostel wollten, wollten jetzt unbedingt zurück und ihre Sachen holen. Das hat einen kurzen Streit mit dem Hostelbesitzer entfacht, der es komplett leichtsinnig und dumm fande (ich auch) jetzt zurück zu gehen. Da er aber nach wie vor das Interesse seiner Gäste über sein eigenes Wohl gestellt hat, ist er mit ihnen mitgekommen und hat ihnen den Weg gewiesen. 
Als sie zurück kamen, hatten sie Decken für uns alle dabei! Was für ein Geschenk. Wir haben uns zu dritt oder mehr eine Decke geteilt und lagen eingemauert auf dem Boden. 
Mohammed (Hostelbesitzer) hat uns erzählt, das gerade als sie die Trümmer überqueren wollten, die zweite Mauer des eingefallenen Gebäudes eingebrochen ist und die Gruppe um ein Haar erwischt hätte! Was für ein Schwachsinn um 4:00 Uhr Nachts seinen Kram holen zu wollen!!! 

Wir lagen zwar nun warm, aber geschlafen habe ich trotzdem nicht. Ich habe die ganze Zeit die Nachrichten aktualisiert und jede einzelne Meldung aufgesaugt wie ein Schwamm. 

Gegen 5:30 Uhr hat Mohammed uns “aufgeweckt” und uns zu einem Kumpel von sich in ein stabileres Hotel geführt, wo wir auf einem Sofa 2h geschlafen haben bis es hell wurde. Auf dem Weg dahin sind wir durch eine Kamera gelaufen und in den Nachrichten gelandet. 

(Auf 0:26 vospulen. Da laufen wir in unsere Decken gehüllt an der Kamera vorbei…)

Am nächsten Morgen sind wir wieder zurück ins Hostel und haben unsere Sachen geholt. Zurück im Hostel erschienen die letzten 12h immer noch total surreal auch wenn die Risse und die Trümmer überall deutlich zeigten, was passiert war. Wir (Tricia, Kasia, Jette und die drei deutschen Mädels) haben überlegt wie es weiter geht. Wir wollten auf jeden Fall eine Unterkunft, die im Falle eines Nachbebens nahe einer offenen Fläche ist. 

Den Minarett, den ich nicht mal 24h vorher fotografiert habe, gibt es so nicht mehr…


Kasia, Jette und ich haben uns entschlossen uns ein Hotelzimmer am Rande der Medina zu teilen. Ich musste ja zum Glück sowieso nur noch eine Nacht überbrücken. Allerdings habe ich nun gebangt, ob mein Flug überhaupt fliegt. (Ist er, um diese Frage mal vorweg zu nehmen)

Wir haben den ganzen Nachmittag geschlafen und komischerweise hat mich erst jetzt die Angst um erneute Beben heimgesucht. In der Nacht auf dem Platz war in mir ein tiefes Vertrauen und große Zuversicht, dass es nicht nochmal bebt, aber im Hotel war ich auf einmal hypersensibel gegenüber jedem winzigen Geräusch und jeder Vibration. Sei es eine Tür die zugemacht wurde, ein Hund der draußen bellt oder, dass im Nachbar Raum etwas runter fällt. 
Man muss dazu sagen, dass unser Hotelzimmer quasi kein Fenster hatte. Es gab ein kleines, durch das gerade so eine Katze gepasst hätte und ein größeres, dass aber ins Bad geführt hat und nicht nach draußen (ja sehr bizarre Konstruktion). Wir hätten also durchs Gebäude fliehen müssen und waren im
Endeffekt eigentlich in unserem Zimmer wie in einem Bunker gefangen. Wie ungünstig dieses Zimmer war, habe ich dann vor allem in der Nacht realisiert und bin auch nachts bei jedem winzigen Geräusch hochgeschreckt und habe mich aufgerichtet um auf kleinste Bewegungen zu lauschen. Ich war richtig paranoid. Zum großen großen Glück lagen ja Jette und Kasia neben mir und ich war nicht alleine. 

Unter dem Torbogen ist der Eingang zu unserem Hostel

Solche Risse haben ganz ganz viele Häuser

Die Straße zum Hostel. Links von der Palme war unsere Dachterasse. Also wirklich direkt daneben 



Wie sehr ich die anderen gebraucht habe, habe ich erst gemerkt, als ich am Flughafen mit ein paar Leuten von zu Hause Kontakt hatte und realisiert habe, dass keiner von Daheim ansatzweise verstehen kann und wird was ich erlebt habe. Dafür ist das alles viel zu weit weg von zu Hause.

Jette hat in der Nacht vom Erdbeben im Scherz gesagt, dass das Beben voll das Trauma-bonding ausgelöst hat. Und damit hatte sie total recht. [für meine nicht-englischsprachigen Omas: “Trauma-bondig” meint, dass man durch ein schlimmes Ereignis sehr schnell zusammen wächst und sich, obwohl man sich vielleicht noch nicht so gut kennt, unglaublich nahe fühlt]
Dieses Ereignis wird uns alle für immer verbinden und ich habe alle, mit denen ich diese Nacht geteilt habe, unnormal sehr ins Herz geschlossen. 

Am Flughafen in Marrakesh habe ich mich ganz komisch gefühlt. Einerseits wollte ich einfach nur noch Normalität, Sicherheit und meine eigenen 4 Wände. Andererseits wollte ich die einzigen Menschen mit denen ich wirklich auf der selben Ebene über das reden kann, was passiert ist, nicht verlassen. 

Außerdem hat es sich auch falsch angefühlt, jetzt, wo die Marokkaner:innen so eine Katastrophe erlebt haben, ihre Häuser und Familien verloren haben, einfach abzuhauen. Natürlich ist mir klar, dass ich nichts ausrichten kann und es nicht meine Schuld ist, aber diese Menschen, die über meine ganze Reise hinweg so lieb und gastfreundlich zu mir waren, jetzt einfach mit ihren Problemen alleine zu lassen und in mein privilegiertes, europäisches Paradies zurück zu fliegen, hat mich sehr gequält. Mir kamen im Flugzeug die Tränen, wenn ich an die Menschen in den Bergen gedacht habe, die komplett unter Trümmern versunken sind, ihre Familien verloren haben oder wissen, dass sie unter meterhohem Schutt begraben liegen. Die am schlimmsten betroffenen Bergdörfer sind angeschnitten von jeglicher Hilfe und die Leute haben alles verloren. 
Wie kann das Leben nur so ungerecht sein, diesen Menschen, die niemandem etwas zu leide tun, einfach für sich und ihre Gemeinschaft in ihrem Dorf leben, nur das nehmen was sie brauchen und so anspruchslos sind, einfach innerhalb von Sekunden alles zu nehmen…? Ich weiß das niemand jemals behauptet hat, das Leben wäre gerecht, aber dieses Erdbeben hat es mir das erste Mal so richtig bewusst gemacht. Normalerweise ist man immer so weit weg wenn so etwas auf der Welt passiert und findet es zwar schlimm, aber man fühlt eigentlich nichts dabei, weil man weder den Ort noch die Leute kennt. Ich weiß jetzt, was es heißt, so etwas vor Ort mit zu erleben und werde in Zukunft anders auf solche Ereignisse schauen. Ich habe auch viel daran gedacht, dass ich nicht mal 4 Tage zuvor selber in den Bergen unterwegs war und durchaus auch dort hätte sein können, als das Beben passiert ist…

Unsere drei Hostel-Helden. Mohammed in der Mitte. Diese drei sind einfach der Wahnsinn!

Natürlich war das Ganze keineswegs lustig, aber das Adrenalin und der Schock macht irgendwie dass wir am nächsten Morgen alle super lustig drauf waren. Diese gemeinsame Nacht und die Tatsache dass alles gut gegangen ist, spielen vermutlich auch rein. (Links: Kasia, Vorne: Tricia, Rechts: Jette)


Am Abend danach auf der Dachterasse vom Restaurant. Recht viele Menschen sind ganz schnell zum normalen Tagesgeschehen übergegangen, sodass auch alle Restaurants, sie unbeschädigt waren wieder auf gemacht haben.


Selbst in diesem Erdbeben habe ich wiedermal - wie immer - zu den Privilegierten gehört und bin mit dem minimalsten Schaden davon gekommen. Anderen geht es so viel schlechter… das muss man sich immer wieder vor Augen führen.

Eine Nachwirkung, die mir an mir aufgefallen ist, ist, dass das bedingungslose Urvertrauen was man seit man lebt in den Boden unter seinen Füßen hat, nun im wortwörtlichsten Sinne erschüttert ist. Ständig habe ich Kleine Imaginationen, dass wieder alles anfängt zu wackeln und ich habe auch hier in Paris nicht das selbe Sicherheitsgefühl wie ich es vorher hatte… Vermutlich ist das normal in den ersten Tagen. 


Ich bin pünktlich von Marrakesh abgeflogen, gut in Paris gelandet und sitze jetzt in einem Bistro im Lateinischen Viertel. Heute Abend 18:30 geht mein TGV zurück nach Zürich.
Die Tatsache dass man hier nichts von alledem spürt, was in Marokko gerade losgeht, fühlt sich so falsch an. Andererseits hilft es mir, etwas Abstand zu gewinnen. 



Ich schreibe wie immer noch einen Eintrag über meine Reiseerfahrungen dieser tollen - wenn auch unglücklich geendeten - Zeit in Marokko! 🇲🇦



Das sind noch die für mich bewegendsten Bilder aus den Medien…






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